A conversation between Raphaela Vogel and Elisa R. Linn

Datum

17 August 2021

Gespräch Interview

Raphaela und Elisa unterhalten sich über Raphaelas Skulptur, während sie in einem Einkaufszentrum in Berlin spazieren:

E: Auf zwei gebrauchten Kühlschränken, einer knallrot und halb geöffnet, einer geschlossen mit Hunde-Postkarten tapeziert, stehen zwei Giraffen aus Bronze. Ihre Mäuler halten eine Girlande aus Buchstaben: „THERE ARE INDEED MEDIUM-SIZED NARRATIVES”.

Es scheint fast so, als würden die Giraffen an Flanierende wie ein deplatziertes Eingangstor eines Vergnügungsparks im Coney-Island-Stil appellieren, hinter dem sich letztlich nichts außer Sand und Hochhäuser türmen?

R: Ja, es hat ein bisschen was von gestapeltem Sperrmüll, der irgendwie fehl am Platz ist, nirgends hingehört und fast schon einen pathetischen Beigeschmack entwickelt: so direkt am Meer.

E: Ich musste bei den Giraffen an Zarafa denken, die 1826 von Ägypten übers Mittelmeer nach Paris als eine der ersten lebenden Giraffen als Geschenk von Muhammad Ali von Ägypten an König Karl X nach Frankreich gebracht und zum „exotischen” Gimmick wurde – ähnlich wie auch Peter Friedls ausgestopfte Giraffe namens Brownie auf der documenta.

R: Tierdarstellungen haben ja eine lange Tradition, wenn es um symbolische Repräsentationen von Werten und Ideen geht. Ich hatte eigentlich eine Arbeit mit Pferden und Heraldik geplant, die schon lange eine Rolle in meiner Arbeit spielen, wie auch Löwen. Im Laufe des Prozesses sind dann Giraffen daraus geworden, weil ich da für diesen Rand Europas, diese Küste, von der aus der Kontinent aus guten, meist aber auch nicht so guten Gründen verlassen wurde, ein quasi-heraldisches Tier brauchte: Ein Tier, das nicht für Europa steht und damit auch dafür, dass sich diese anderen Tiere nicht so ohne Weiteres auf den Sockel der Repräsentation stellen lassen.

E: Das heißt, es ging dir hier um die Konventionen, das Erbe und die Bestrebungen der Heraldik, wie solche „wilden Kreaturen” zu stolzen Bestien stilisiert werden?

R: Manche dieser Tiere sind undomestizierbar. Dabei geht es nicht nur um eine Art Anbetung, sondern vor allem um Ausbeutung: die Ambivalenz, wie wir mit Tieren umgehen, wie sich Zivilisationen, Gruppen und Individuen durch Tiere repräsentieren und sie für Triumphgesten nutzen. Man denke an Giraffen- oder Zebraköpfe, die Wohnzimmer als Wandtrophäe schmücken.

Ich fand es zum Beispiel interessant, dass man während der Kolonialisierung Afrikas versuchte, Zebras mit Pferden zu kreuzen, um sie zu domestizieren und robustere und stärkere Krafttiere in Gebieten nutzen zu können, wo es eigentlich keine Pferde gibt. Die chimärenartige Kreuzung von Zebra und Pferd zu einem neuen Krafttier konnte sich jedoch nicht fortpflanzen. Die Idee, ein Krafttier aus einem Wildtier zu schaffen, scheiterte also. Dann haben die Europäer das Auto erfunden, dessen Kraft sie in Pferdestärke gemessen haben

E: Ich erinnere mich noch daran, dass einem als Kind oft eingeflüstert wurde, dass die Giraffe wegen ihres Körperbaus und ihres Fellmusters eine Kreuzung von Kamel und Leopard sei.

Sind die Giraffen weiblich oder männlich und spielt ihr Geschlecht überhaupt eine Rolle?

R: Es handelt sich hier eigentlich um ein Pärchen, das schon ausgewachsen ist. Das erkennt man zum Beispiel an den Hoden des männlichen Tieres. Die Giraffen sind weder lebensgroß noch Miniaturen. Sie sind sozusagen mittelgroß.

E: Mittelgroß kann manchmal wie ein Kompromiss klingen ...

R: Ja. Die großen Erzählungen sind vorbei. Auch die Buchstabengirlande bezieht sich hier auf einen bekannten Gedanken des Philosophen Jean-François Lyotard, der zu so etwas wie einem Slogan der Postmoderne geworden ist. Einerseits beschrieb der Slogan das Scheitern des Projektes der Moderne, andererseits wurde er so verstanden, dass nun die Mikropolitik übernehmen könne.

E: Das heißt, bei der Skulptur schwingt also auch eine Art Auslöschungsgedanke mit?

R: Genau. Aber auch die Idee, dass parallel eben mittelgroße Geschichten existieren, die mehr sind als nur Mikropolitik – Antirassismus oder Feminismus zum Beispiel – die aber auch nicht alles abdecken. Das sind Geschichten im Sinne von Deutungen. Die Giraffen werden zu Sprechern und tragen den Satz nicht nur als Krafttiere vor sich her. Sie haben eine gewisse Autorität, indem sie den Satz von oben herab kommunizieren … beinahe neunmalklug.

E: Bei dem Satz „THERE ARE INDEED MEDIUM-SIZED NARRATIVES” wird man das Gefühl nicht los, den Anfang einer Unterhaltung verpasst zu haben, als würde man als Passant*in mitten in ein Gespräch oder eine Rede hineinstolpern.

R: Das stimmt. Der Satz ist absichtlich aus dem Zusammenhang und einer Argumentation gerissen – eben einem Dialog zwischen Anhänger*innen großer und ganz kleiner Initiativen. Man schnappt nur Wortfetzen auf und fragt sich, worauf sich wohl „indeed” und „but” beziehen. Ging es dir auch so?

E: Ja. Ich habe gedanklich sofort versucht, diese „medium-sized narratives” unterm Vergrößerungsglas zu betrachten und zu fassen – vergeblich. Denn obwohl der Schriftzug und die Giraffen vermeintlich direkt zu einem Publikum sprechen, verkommuniziert hier etwas und weder die Geschichte an sich noch ihr Maßstab werden greifbar.

R: „Mittelgroße Erzählungen” ist hier gewissermaßen auch eine quatschige Wortschöpfung, denn es wird  ja kein Vergleich zu anderen gleichartigen Objekten oder Ideen, die als Orientierungshilfe zur Bestimmung dienen könnten, mitgeliefert. Diesen Vergleich muss man sich also selbst suchen.

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Die großen Erzählungen sind vorbei. Auch die Buchstabengirlande bezieht sich hier auf einen bekannten Gedanken des Philosophen Jean-François Lyotard, der zu so etwas wie einem Slogan der Postmoderne geworden ist. Einerseits beschrieb der Slogan das Scheitern des Projektes der Moderne, andererseits wurde er so verstanden, dass nun die Mikropolitik übernehmen könne.

E: Ja, „mittelgroß” hat fast etwas Unbefriedigendes als Eigenschaftswort. Es ist nichts Halbes und nichts Ganzes, irgendwie „lauwarm”. Manche absoluten Superlative sind aber auch nicht sinnstiftender … wie etwa „oberfaul”. 

R: Oder: „ultranackt”.

E:  Das trifft es noch besser. Das war der Titel deiner Ausstellung in Basel, richtig?

R: Ja.

E: Die Ästhetik der Buchstabengirlande greift diesen latenten Widerspruch mit ihren robusten Gravurbuchstaben, die man auf einer Gedenktafel vermuten könnte, auf. Und dennoch wirken sie – so vereinzelt an einer fragilen Schnur befestigt und klimpernd, wenn sie von Windstößen in Bewegung gesetzt werden – ein wenig zerbrechlich. Was war die Inspiration für Material und Schriftart?

R: Ich habe eigentlich den Versuch unternommen, aus der Schriftartpalette, die bei dem Grabsteinhändler zur Verfügung stand, keine neutrale oder technische Schrift wie etwa Arial oder eine verschnörkelte wie altdeutsch zu wählen, sondern eine, die dazwischen liegt und die man nicht sofort wiedererkennt. Hast du eine bestimmte Assoziation zu dem Schrifttyp?

E. Obwohl mein Stiefbruder eines der ältesten Bestattungsinstitute Berlins leitet, habe ich es bisher irgendwie verpasst, in Grabsteinschriften einzutauchen. Die Schrift ist für mich nicht wirklich vorkonnotiert, wirkt aber dennoch wegen ihres subtilen 3-D-comicartigen Charakters vertraut: Ich musste irgendwie an das Steinzeitflair des „Yabba Dabba Doo"-Schriftzuges, der den Rasen des berüchtigten „Flintstone-Hauses” (Familie Feuerstein) in Kalifornien schmückt, denken. Das mag kein Zufall sein.

R: Ja, die Flintstones stellen aber eben noch eine ganz große Geschichte dar. Oder auch nicht. Kleinfamilie forever, von den Anfängen bis heute. Bei der Buchstabengirlande hatte ich an eine Inschrift gedacht, wie man sie eben von Grabsteinen kennt. Ausgangspunkt für die Skulptur war die Frage nach der heutigen Bedeutung und Funktion von Monumentalskulptur im öffentlichen Raum – was auch Bronze als Material andeutet. Die Funktion von Monumentaldenkmälern gibt es ja in diesem Sinne nicht mehr und dennoch war es mir wichtig, Elemente davon herauszuarbeiten. Man hat früher das immer schon Große, das Herrschende auf einen Sockel gestellt und noch größer gemacht. Die Giraffen gelten als groß, sind aber nur mittelgroß. Sie herrschen nicht, aber dass sie auch nicht nichts sind, sieht man erst, wenn sie auf einem Sockel stehen. Man kann sich dann vorstellen, dass sie da nicht drauf gestellt wurden, sondern ihn gewissermaßen erklommen haben. Wie am „Speaker’s Corner“ in London. Nur statt einer Kiste haben sie sich auf die Kühlschränke des Wirtschaftswunders gestellt, um dann über die Slogans der darauf folgenden Epoche – der Postmoderne –  zu sprechen. Sie befinden sich so in einer historischen Zeitlichkeit, in der Regimes auf Regimes folgen…

E: Auch Statuen können sterben. Jüngst wurde angesichts aufgelebter Debatten um Kolonialismus und Rassismus heftig an Denkmälern gerüttelt. Man denke auch an „Leninfall”), ein Wortspiel, das aus der massiven Welle von grotesken Abrissen von Lenin-Denkmälern im Zuge der Dekommunisierung in Kiew entstand.

Kann man deine Skulptur auch als Versuch deuten, die Rolle von Denkmälern und deren Wandel zu verhandeln – die Tatsache, dass bei Umbrüchen eigentlich immer auch der öffentliche Raum gedächtnispolitisch neu geordnet wird?

R: Es gilt aber auch: Die Statuen können im selben Maße sterben, wie die von ihnen repräsentierten konkreten oder generischen Dinge oder Personen weiterleben.

E: Hast du über diese Skulptur im öffentlichen Raum denn grundsätzlich anders nachgedacht als über Skulpturen, die du für Ausstellungsräume entwickelst?

R: Ja, schon. Das hier ist meine erste Skulptur im öffentlichen Raum, was sich fundamental vom Galerieraum unterscheidet und Neuland für mich ist.

E: Gerade ab den 60er Jahren ging Kunst im Stadtraum damit einher, über Expertenkult hinauszuwirken, ein Publikum jenseits der Museumswände auf der Straße abzuholen und mittels Skulpturen (meist von männlicher Künstlerhand geschaffen) als Störfaktor in die bürgerlichen Vorstellungen vom öffentlichen Raum hineinzugrätschen. Man denke an Vostells „Beton-Cadillacs” auf dem Rathenauplatz in Berlin von 1987, die heftige Bürgerproteste mit sich zogen. Ende der 90er ging es dann schon etwas pragmatischer zu. In seinem Buch mit dem treffenden Titel Die Kunst im öffentlichen Raum oder ein Gemeinplatz und sein Elend (1997), schrieb der Psychologe und Kunsthistoriker  F. W. Heubach über die „Unterwerfung der Kunst unter den bislang eher an Postfilialen, Pissoirs und Geschäfte des täglichen Bedarfs gerichteten Anspruch, nämlich: in Laufnähe erreichbar zu sein".

Würdest du in Anbetracht „mittelgroßer Erzählungen” damit übereinstimmen?

R: Was wäre denn das Gegenteil von „täglichen Bedarf“? „Sonntäglicher Bedarf“? Kirche? Kunst an Wallfahrtsorten? Der öffentliche Raum ist weder die Rettung noch der Niedergang der Kunst. Aber Mail Art, Duchamp und Broodthaers haben sich ja schon vorher um Post, Pissoirs und kleine Shops gekümmert..

Auf einem Hof neben einem Wohnwagen:

E: Ein Wohnwagen als Container ist mein persönlicher Alptraum – ähnlich wie ein Zelt. Wie funktioniert das im Winter? Ihre genormten Maße passen sich gar nicht unbedingt dem menschlichen Körper und seinen Bedürfnissen an, sondern pferchen ihn mitunter zu einer idealistischen geometrischen Form zusammen. Wo sind wir stehengeblieben?

R: Grabsteine und Kühlschränke.

E: Der Kühlschrank versinnbildlicht als konservierender Container vermutlich wie kein anderer den Fetisch der Moderne. Von allen Objekten in der Standardküche ist der Kühlschrank wahrscheinlich das beziehungsintensivste Gerät. Durchschnittlich öffnet man ihn ca. zehnmal am Tag. Michael Fried schrieb dieser anthropomorphen Gestalt von Box sogar eine „große Präsenz” zu. Die Giraffen scheinen gegen diese anthropomorphe Präsenz auf die Barrikaden zu gehen?

R: Die Idee war wie gesagt eine Gegenreaktion auf Lyotards „Große Erzählungen”, die man auf humorvoller Ebene verstehen sollte. Im Kühlschrank befinden sich mehr oder weniger „natürliche“ Tier- und Pflanzenprodukte, die zu Waren wurden. Statt sie aber sofort zu verwerten, bewahren wir sie auf, halten Haus. Dabei geht es auch um die Frage, wie man sich um seinen „eigenen Vorgarten” kümmert: Wie man sich ernährt und mit welchen Dingen man seinen Körper füllt, aber auch in Bezug auf grundsätzliche moral-ethische Fragen.

E: Kunst wird hier geradezu vom Sockel gehoben, obwohl du ja den Giraffen gleichzeitig auch einen Sockel bietest. Das könnte man als eine Persiflage auf den Sockel an sich lesen?

R: Das stimmt. Einerseits hat man einen Sockel, andererseits nimmt er sich eben nicht so ernst. Außerdem habe ich überlegt, wie ich die Giraffen etwas erhöhe, denn die sind ja nicht so groß. Ich wollte sie etwas entrücken, damit sie optisch die Größe bekommen, die sie eigentlich haben.

E: Aus der Ferne sieht es so aus, als würden die Giraffen eigenständig und lose auf den Kühlschränken stehen. Auch hier trügt der Schein. Sie sind eigentlich befestigt?

R: Sie sind in den Hufen mit dem Kühlschrank verschraubt. Ich hatte sie in meinem Atelier nur auf einen Kühlschrank gestellt, was eine heikle Konstellation war. Vor allem im Außenraum müssen sie statisch bombenfest sein.

E: Vermutlich auch, um dem altbewährten kunstphilosophischen Credo – „Ist das Kunst oder kann das weg” – nicht allzu gerecht zu werden?

R: Ich hatte bei der Skulptur auch „Kühlschrank-Kunst”, wie sie zum Beispiel Thomas Rentmeister macht, im Kopf. Obwohl es mir bei der Skulptur eben gerade nicht darum geht, eine minimalistische Tradition fortzuführen, im Gegenteil. Man liest darin ja mitunter „Trash” in den Ausstellungsraum: Als Widerstand gegen eine gewissen Auratisierung, die es im Galerieraum oft gibt.

E: Ja. Der Kühlschrank ist ganz offensichtlich nicht neu, sondern benutzt und fast rasterartig mit verschiedensten Postkarten beklebt, die alle chinesische Shar-Pei Hunde abbilden (eine sogenannte Qualzucht). Da schwingt neben der „Minderwertigkeit” des Objektes auch ein gewisser emotionaler Affekt eines Besitzers mit, der sich im Objekt abgelagert hat?

R: Der kleinere Kühlschrank, den ich seit Jahren im Atelier und auch im Einsatz gehabt habe, stammt von einer Tante eines Freundes. Die Sicherungen sind dann aber hin und wieder rausgesprungen, sodass ich ihn letztlich aussortiert habe. Den größeren roten Kühlschrank habe ich auf der Straße im Berliner Stadtteil Neukölln gefunden.

E: Der rote Kühlschrank ist leicht geöffnet und man erkennt eine Art Skelettstruktur. Es erinnert mich ein bisschen an Jindrich Poláks Ikarie XB 1, das Innenleben eines Raumschiffes ...

R: Ja, das Innere des Kühlschranks wirkt futuristisch, befremdlich und ein bisschen lapidar. Das Gestell mutet für mich wie eine Raketenabschussbahn an.

E: Der Kühlschrank: Also doch ein unberechenbares Quasi-Subjekt und „Fleischwerdung” totalitärer modernistischer Visionen?

Ich hätte mal eine Gabel für den Kuchen mitnehmen sollen.

R: Vielleicht fragst du die im Wohnwagen. Sag einfach, wir sind von Interzone.

Elisa geht zum Wohnwagen und holt eine Gabel und setzt sich wieder neben Raphaela.

E: Wir werden hier gleich von Regenmassen überschüttet.

R: Es könnte aber auch weiterziehen. Schau mal der Himmel wird wieder heller …

This conversation between Raphaela Vogel and Elisa R. Linn took place in Berlin and was translated and edited by Sofia Leiby. 

Elisa R. Linn is a curator, writer and educator based in Berlin and New York. 

Raphaela Vogel is a Berlin-based artist who made the sculpture There Are Indeed Medium-Sized Narratives for Beaufort 21 in Middelkerke.